Castello di Pavarolo

Rätsel über Rätsel

Die Existenz des Castello di Pavarolo, das sich nahe Turin auf einem Hügel in die Höhe reckt, ist seit dem Jahr 1047 zweifelsfrei belegt. Der Grund für seine Errichtung hingegen nicht. Es ist unbekannt, ob die Burg aus strategisch-militärischem oder aus wirtschaftlichem Anlaß gebaut wurde.
Die Suche nach Spuren seiner Vergangenheit wirft mehr Schatten als Licht und Erklärungsversuche hinterlassen ungezählte Fragezeichen…

Eine fortlaufende, eigene Geschichtsschreibung zum Ort Pavarolo existiert im Grunde nicht, da er überwiegend in Abhängigkeit zu Chieri, der wohlhabenden, seit 1212 freien Nachbargemeinde mit eigenständiger Gerichtsbarkeit, stand. Wenige gesicherte Aufzeichungen weisen Lücken von Jahrzehnten bis Jahrhunderten auf. Hinsichtlich des Ursprungs der Besiedlung wird auf römische Wurzeln spekuliert. Archäologische Funde, die diese Hypothese stützen, gibt es aber nicht.
Dass Pavarolo dennoch uralt ist, weiß man aus seiner Benennung in antiken Dokumenten, allerdings in wechselnder Bezeichnung:
Vor dem Jahr 1000 übergibt Kaiser Otto III. ein „Pinariolum“ in die Obhut von Amizzone, Bischof von Turin. Zumindest will dies eine Kopie vorgenannter Übertragungsurkunde aus dem 12. Jahrhundert bezeugen. Spätere Historiker bezweifeln die Echtheit dieses Schriftstücks und bezichtigen es des Eigennutzes.
1034 liest man von einem „Paverium“.
Am 1. Mai 1047 bekräftigt Kaiser Arrigo III. (Heinrich III.) die Zugehörigkeit von „Pavariolum“ inklusive eines Castello zur Geistlichkeit von Turin.

Wie bereits erwähnt, weiß man nicht um den Grund für die Errichtung des Castello di Pavarolo. Da in der Region keine Verteidigungslinie existierte, geht die Annahme in Richtung eines befestigten Hofes zur Verfolgung ökonomischer Zwecke. Geschickt wussten nämlich die Herren von Chieri die wachsende Machtunfähigkeit des Turiner Klerus auszunutzen, und schon im 12. Jahrhundert verlor die Kirche die Autorität zur Steuereintreibung. Daran beteiligt war allerdings Kaiser Friedrich I. Barbarossa, der im Jahr 1155 die Stadttürme von Chieri zum Einsturz brachte.
Neun Jahre später, in 1164, vermachte sein Diplom dem kaisertreuen Guglielmo V., Marchese di Monferrato, die Gebietsherrschaft über Chieri einschließlich Pavarolo. In jenen unruhigen Zeiten der aufflammenden blutigen Auseinandersetzungen zwischen den kaisertreuen Ghibellinen und den papstanhänglichen Guelfen zweifelten die Herren von Pavarolo diese Zugehörigkeit wohlweislich nicht an und versicherten Chieri im Jahr 1235 ihre Treue.
1238 unterstellt Kaiser Friedrich II. Chieri allein seiner Herrschaft und entledigt den Ort damit jeglicher Zwänge.
Einige Jahre nach Friedrichs Tod überträgt indessen Goffredo di Montanaro, wiederum ein Turiner Bischof, das Castello einem Segnorino Balbo als Lehen…

Die weitere Verfolgung der Historie des Castello gestaltet sich schwierig und es sind nur katastrophale Ereignisse, welche die Chroniken festhielten:
Während des Krieges zwischen dem Hause Savoia-Acaia und den Markgrafen des Monferrato erstürmte in 1396 der Kommandant Facino Cane aus dem markgräflichen Lager das Castello. Am 5. Mai 1400 erkämpfte sich Chieri das verbündete Pavarolo zurück.
Zur Zeit der Belagerung Turins im Spanischen Erbfolgekrieg rückten im Juni 1706 die Franzosen auf Pavarolo, um die Verteidigungslinie des habsburgischen Generals Wirich Philipp Lorenz von und zu Daun zu durchbrechen.
Am 22. Juni 1792 wütete ein Orkan mit Hagel in der Gegend.

Ansonsten liegen die Fakten um das Castello im Dunkeln. Sowohl in Details seiner ursprünglichen Konstruktion, als auch zu Umbauten oder Erweiterungen durch die vermutlich wechselnden Eigentümer. Als Labyrinth möchte das komplett aus rotem Backstein bestehende Gemäuer mit auffälligem „bertesca“[1] verstanden werden, das Mysteriöses preisgibt, wenn man sich an seine Ergründung heranwagt.
So soll es z.B. einen Geheimgang zum alten Castello di Montaldo gegeben haben bzw. noch immer geben, in dem diverse „fantomatici trabocchetti“ (Geisterfallen) eingebaut waren, um damit Jusitz zu üben… Was die Frage aufwirft, ob die großen Kinomacher unserer Zeit von der Geschichte dieser Burg gelesen haben und sich inspirieren ließen…
Jedenfalls, im Zuge dieser Lust am Graben entstand vielleicht auch der Brunnen des Castello. Mit seinen 67 Metern gehört er zu den tiefsten Schlossbrunnen des Piemont.

Erst ab dem Jahre 1881 können die Eigentümerwechsel nachvollzogen werden. Es waren vier, bis 1924. Im Dezember jenes Jahres erwarb die Witwe Zavattaro Ardizzi das Castello. Sie starb 1977 und vererbte an ihre sieben Kinder.

Generale Guglielmo Zavattaro Ardizzi, der das Castello aktuell bewohnt, widmet sich mit Herzblut diesem sagenumwobenen Bauwerk. Das Schicksal belohnte ihn dafür mit einer sensationellen Entdeckung von kulturhistorischer Bedeutung:
Vor einigen Jahren veranlasste er, in einem Salon eine hässliche, die Lichtverhältnisse beeinträchtigende Deckenverkleidung aus dem 19. Jahrhundert zu entfernen. Ein Arbeiter, der diese Verkleidung mit einem Hammer abschlug, hielt plötzlich inne und rief aufgeregt:
„Generale, guardi, qui ci sono tracce di pittura!!“ („Herr General, schauen Sie, hier sind Reste einer Bemalung!!“)
Der eilig hinzugezogene Historiker Giovanni Donato beurteilte den überraschenden Fund, der sich als komplette Deckenbemalung herausstellte, als typisch piemontesiche Hofmalerei, entlehnt der spanischen und französischen Mode des Mittelalters.
Ursprünglich aus mehr als 176 einzeln bebilderten Holztäfelchen bestehend, blieben davon 116 in bewundernswert gutem Zustand erhalten.
Simonetta Castronovo, Konservatorin am Palazzo Madama in Turin, würdigt die Entdeckung als außergewöhnlich und von europäischem Rang. Nach ihren Worten gilt es unbedingt, deren Variantenreichtum im Detail zu studieren. Die Motive reichen von religiösen Themen bis hin zu weltlichen, von Höfischem bis hin zu Ritterlichem. Sie zeigen den Kampf zwischen Gut und Böse, Liebe, Exotik, skurrile Fabelwesen mit teilweisem Zugeständnis an Unzüchtigkeit… Sie widerspiegeln Zeitgeist und Verhaltenskodex, aber auch Lust und Genuss. Sie repräsentieren Zurschaustellung künstlerischen Könnes, das man sich in Anbetracht seines edlen Standes leisten konnte.
Aufgrund nicht auszumachender Signierung kann man trotzdem im Vergleichswege vermuten, dass diese Deckenmalerei, die einst einen großen Salon geschmückt haben muss, der im Laufe der Zeit in einzelne Räume abgeteilt wurde, von den sog. „Maestro di Montiglio“ geschaffen wurde. Nur sie waren es, die um 1354 im Piemont auf diese Weise malten.

Abschließend stelle man sich vor, dass dieses Castello im Zweiten Weltkrieg von den Deutschen als Militärbasis beansprucht wurde. Jedoch, so die Aussagen von Zeitzeugen, auf eher unübliche Weise:
Obgleich man auf deutscher Seite von der unmittelbaren Gegenwart italienischer Partisanen wusste, folgten keine kämpferischen Auseinandersetzungen. Stattdessen konnte man auf dem markanten Aussichtsturm des Castello Soldaten der Wehrmacht beobachten, die entspannt auf den Simsen saßen und den herrlichen Rundumblick in die Weite der Alpen, über den piemontesisch-ligurischen Appenin und das nahe Monferrato zu genießen schienen.
Nach der Kapitulation des Deutschen Reiches okkupierten angloamerikansiche Truppen die Burg. Doch auch ihre Beweggründe lagen jenseits schädigender Besatzung. Sie gaben nur vor, das Castello zu belagern, und schützten es damit vor Nachzüglern, die das Gemäuer als notdürftigen Wohnsitz hätten beeinträchtigen können.

So steht die Frage:
Wie weit reicht die Zauberkraft dieses geheimnisvollen Gemäuers, dass es sich sogar in den Wirren des Zweiten Weltkriegs vor seiner Zerstörung selbst zu schützen wusste?

Quellen:
– Prof. G. Casalis, Dizionario geografico storico-statistico-commerciale degli stati di S.M. Il Re di Sardegna“, Vol. XVI, Torino 1846
– Corriere di Chieri, Ausgabe 28.05.2018
– www.comune.pavarolo.to.it

[1] Aussichtsturm, insbesondere für Soldaten