PIEMONT Italiens einzigartiger Nordwesten Märchenschlösser
Zum Geleit
Vor einiger Zeit ließ ich eine stimmungsvolle Wanderung durch das Weinbaugebiet ‚Roero‘ mit der Besichtigung eines imposanten Castello ausklingen.
Dort stand ich nicht nur wie gebannt vor dem Portrait des lächelnden Baldassare Cusani aus dem Jahre 1450, der mir sanft aber unauslöschlich die Idee zu einem neuen Märchen für Erwachsene einflüsterte. Ich tauchte auch ein erstes Mal in die Welt von Piemonts Burgen und Schlössern ein, die man vielerorts in Italiens einzigartigem Nordwesten NOCH bestaunen kann.
Das Wort NOCH betone ich deshalb, weil diese Welt, jenseits der Touristenströme gen Venedig oder Florenz, alles andere als finanziell abgesichert ist. Als Privatangelegenheit bleibt den nicht selten aus uralten Adelslinien stammenden Eigentümern die öffentliche Hand verschlossen. Auch EU-Fördergelder sind nur schwer und, wenn überhaupt, unzureichend zu erlangen.
Als ich mit den Recherchen zu diesem Thema begann, umfasste meine Auflistung der historischen Bauwerke des Piemont -die da wären Burganlagen, Wohn- sowie Wehrtürme und Ruinen- mehr als eintausend Einträge. Obwohl ich die Sakralbauten vollumfänglich aussparte. So fragt man sich, woher jene Fülle an bewundernswerten Gemäuern auf einer Fläche von nur gut 25.000 Quadratkilometern herrührt. Vor allem wegen der Tatsache, dass allein die Alpenregion fast die Hälfte dieses Gebiets für sich beansprucht. – Ein Blick in die wechselvolle Geschichte des Piemont liefert die Antwort:
Vor Jahrmillionen schlief er am Meeresgrund, dieser extreme Landstrich, den später der große Bogen der Westalpen und die Ausläufer des ligurischen Apennin eingrenzen sollten.
Wale tummelten sich über dem heutigen Monte Monviso mit einer Höhe von 3.841 Metern und Muscheln, neben Korallen, fühlten sich im warmen Wasser des Trias (Erdmittelalter, vor ca. 252 bis 201 Mio. Jahren) dermaßen wohl, dass sie fantasievolle Arabesken formten…
Im Erdzeitalter des Tertiär (Ende der Kreidezeit, vor ca. 66 bis 2,6 Mio. Jahren) erschütterten beängstigende Erdbewegungen den Meeresboden. Aus dieser Katastrophe heraus erhoben sich die Alpen in schwindelerregende Höhen. Eismassen formten die Hügel des Monferrato und der Langhe und in deren Tälern schlummerten fortan Sümpfe.
Trotz aller Widrigkeiten erwachte in jener unendlichen Einsamkeit irdisches Leben. Anfangs nur schüchternes Moos, folgten ihm Gräser, und eines Tages bewohnten Baumriesen diese grandiose Landschaft, die jedoch noch kein menschliches Auge bestaunte.
Während des Quartär (Gegenwart, begann vor ca. 2,6 Mio. Jahren) änderte sich abermals das Klima. Im Wechsel von Kalt- und Warmzeiten wälzten sich ausgedehnte Gletscherzungen meterdick über die Erdoberfläche. In ihren Bewegungen entwickelten auch sie sich zu Baumeistern von Hügeln aus Schlamm- und Gesteinsmassen.
Mit dem kontinuierlichen Temperaturanstieg festigte sich aufgetautes Land und wurde zur Heimat von wollhaarigen Elefanten, Höhlenbären, Elchen und Rehen – ein reich gedeckter Tisch für Fleischfresser. So ließen sie nicht lange auf sich warten, die ersten stämmigen, gorillastarken Männer…
Nach und nach kamen diese behaarten Hünen auf die Idee, sich in Familien und Gruppen zu verbünden. Sie beschäftigten sich mit scharfen Steinen, die sie mit den Sehnen erlegter Wildtiere zu Werkzeugen zu binden wussten. Zudem verließen sie sich immer weniger auf das Jagdglück und zufällig entdeckte Höhlen, sondern sie wechselten zu Tierzucht und dem Bau von Hütten.
Neue Populationen erschienen. Es waren die Stämme der Ligurer, die sich in hartnäckiger Arbeit die Natur zum Untertan machten. Wegen ihres langen Kopfhaares nannte man sie „Liguri Capillati“. Sie trugen „Bracas“ an den Beinen, und mit „Sajum“ (Schulterumhängen) wussten sie sich vor der Kälte zu schützen.
Zu ihnen gesellten sich die „Salassi“, die Hauptstämme der Kelten. Gemeinsam pflegten sie auskömmliche Beziehungen zu den Griechen, Etruskern und Karthagern. Bis Hannibal im Herbst 218 v. Chr. die Alpen überquerte. Er war der erste jener Heerführer, die den Piemont im Laufe seiner Geschichte zur Versorgung ihrer Truppen ausplünderten.
In ihrer expansiven Siedlungspolitik vertrieben die Römer den karthagischen Kriegsherrn samt seiner Elefanten. Abgesehen von der Versklavung derer, die sich nicht des Rechts auf römische Staatsbürgerschaft erfreuten, profitierte die Region. Rege Bautätigkeit nahm ihren Anfang, u.a. im verzweigten Straßennetz ebenso wie in der Errichtung von Verteidigungsanlagen.
Doch die massiven römischen Aussichtstürme, die man in Sichtweite zueinander entlang der Hügelketten erbaute, dienten nach dem Niedergang des Römischen Reichs anderen Zwecken:
Auf ihnen loderten vor der ersten Jahrtausendwende die Leuchtfeuer. Mit diesen versuchten die Landsleute, sich vor den einfallenden Sarazenen zu warnen, nachdem sich in den Jahrhunderten zuvor bereits die Goten, gefolgt von den Ungarn, unverhohlen an Piemonts Früchten gelabt hatten.
Der Klerus, der im 8. und 9. Jahrhundert von Karl dem Großen und Otto I. durch immense Landschenkungen zu großer Macht gelangte, sah dem Sterben der Bauern, Handwerker und Adelsfamilien tatenlos zu. Hinter den Mauern von Bistümern und Abteien schwelte die Hoffnung auf noch mehr Herrschaftsgewalt, was sich verheerend auswirkte. Nach der mühsam errungenen Vertreibung der maurischen Landpiraten durch die Genuesen gefror beim Anblick von Piemonts Landschaften das Blut in den Adern:
Für fast zwei Jahrhunderte nach den leidvollen Invasionen ruhte jegliche Zivilisation. Die entvölkerten, zerstörten Dörfer versanken in gruseligen Wäldern. Unkultiviert lagen die Weiden und Äcker. Sümpfe breiteten sich aus. Lediglich in den befestigten Städten wie Turin, Asti, Ivrea, Novara und Vercelli lebten noch einige tausend Einwohner.
Ein beherzter Savoyer, Umberto I. di Savoia, bekämpfte die tiefsteckenden Ängste vor der menschenleeren Gegend. Kraftvoll bemühte er sich um Wiederbesiedlung. Begonnen an leicht zu verteidigenden Orten, fruchteten die in kaiserlicher Gunst gewährten Lehen. Der Feudalismus nahm seinen Aufschwung, doch nicht ohne das unbedingte Bedürfnis nach Sicherheit. Derenthalben entstanden nach und nach die zahlreichen Festungsbauten der Feudalherren, die sich fortan wie eine Mauer quer durch Piemonts Ebenen und Hügelgebiete zogen und eine immense Ortsentwicklung auslösten.
Das vage Licht, das im Laufe des 11. und 12. Jahrhunderts am Horizont aufflackerte, störten die immer wieder aufkeimenden blutigen Auseinandersetzungen zwischen den kaisertreuen Ghibellinen und papstanhänglichen Guelfen. Heftig wurden Landbesitz und Castelli umkämpft.
Zwischenzeitlich entstanden neue Kräfte. Der Wohlstand der Handwerker, ausgelöst durch die Bedürfnisse der zunehmenden Bevölkerung, begründete das städtische Bürgertum als Gegengewicht zu Adel und Klerus.
Asti errang seine Unabhängigkeit als Stadtrepublik und entwickelte sich nach Genua zum wichtigsten Handelszentrum der Region. Doch nicht nur dort, allerorts traf man auf Asti’er Bankiers und Kaufleute, so u.a. in der Schweiz, in Deutschlands Hansestädten, in den Niederlanden und Frankreich.
Das 13. und 14. Jahrhundert kennzeichneten die Machtkämpfe zwischen dem Hause Savoyen und den expandierenden Mailänder Visconti. Sie uferten im Jahr 1416 schlussendlich in der Verleihung der Herzogswürde durch den römisch-deutschen Kaiser Sigismund gegenüber dem achten Conte Amedeo VIII. di Savoia. Piemont war von nun an Fürstentum und trotz wechselvoller Zeiten formten die Savoyer in straffer Politik ihr neues Vaterland und verliehen ihm seine besondere Prägung.
Mit dem ausgehenden 15. Jahrhundert geriet der Piemont zwischen die Fronten der europäischen Großmächte Frankreich und Habsburg, die ihre Machtrangeleien auf seinem Territorium und zu seinen Lasten austrugen. Povero giardino Piemonte! – Armer Garten Piemont!
Emanuele Filiberto di Savoia, genannt testa di ferro (Eisenschädel), sorgte bis ins 16. Jahrhundert hinein mit großem Einsatz für Ruhe im geschundenen Herzland. Er ermahnte die gebeutelten Piemontesi zur Pflicht und sorgte für wirtschaftlichen Aufschwung vor allem in der Landwirtschaft. Trotz seiner Verfehlungen aufgrund religiöser Intoleranz gegenüber dem protestantischen Glauben folgt man bis heute der Tradition des Obst- und Weinbaus, das auf sein Dekret aus den 1560er Jahren zurückgeht. Auch war er es, der die von Kolumbus verschmähte Kakaobohne aus Spanien mitbrachte und Turin zum Ruf der „Hauptstadt der Schokolade“ verhalf.
Nach den Wirren des spanischen, polnischen und österreichischen Erbfolgekrieges, denen sich das zur Monarchie aufgestiegene Königshaus Savoyen nicht entziehen konnte, folgte das Erdbeben der Französischen Revolution.
In einem blitzartigen Feldzug zerbombten Napoleon Bonapartes Kanonenkugeln im Jahr 1796 auch Piemonts alte Ordnung. Das Feudalwesen wurde abgeschafft und somit verloren nicht nur die piemontesischen Feudalherren über Nacht ihre wirtschaftliche Existenzgrundlage. Auch der langsame Niedergang von Piemonts einzigartiger Kultur der Burgen und Schlösser wurde damit unsanft eingeläutet.
Diese Videoreihe versteht sich nicht als Kunstführer. Auch nicht als Reiseführer. Sie möchte den Hörer auf entspannende Weise unterhalten. Sie möchte ihn bildhaft in eine allzu oft verkannte italienische Region mitnehmen. Sie möchte zu Kleinoden führen, weithin sichtbar und doch gut versteckt. Sie möchte Sinne beleben und Herzen erwärmen. Demnach folgen die einzelnen Schlossbeschreibungen auch keinem Schema, denn die Recherche zeigte sich so unterschiedlich wie die einzelnen Bauwerke selbst, und nicht immer gelang es, erschöpfende Informationen zu beschaffen.
Dennoch verbindet sich mit dieser Reihe die Hoffnung, Interesse in der Öffentlichkeit zu wecken.
Wird dieses Ziel erreicht, so danke ich zuerst dem lächelnden Baldassare. Denn schließlich war er es, der mich tief in die Welt von Piemonts Märchenschlössern hineinlockte.
Dieses Geleitwort entstand unter teilweiser Verwendung der „Storia del Piemonte“ von Giorgio Beltrutti, veröffentlicht bei Edizioni L’Arciere Cuneo N. 1/1976.
Das Gemälde des Baldassare Cusani von 1450 wurde mit freundlicher Erlaubnis der Eigentümer im Ahnensaal des Castello di Monticello d’Alba fotografiert.